Wie immer haben Eva und ich viele Tourenideen. Die Wahl fällt schliesslich auf die Überschreitung der Aiguilles de Tré la Tête von der Aiguille de Tré la Tête Nord bis zum Col des Glacier – einerseits weil die angeblich noch guten Firnbedingungen eine für dieses Jahr wohl letzte Möglichkeit auf gemischtes Gelände bieten könnten und anderseits, weil die Tour selten gemacht wird und wir hier auch an einem  Hochsaison-Wochenende abseits vom Trubel unterwegs sein würden. Etwa um halb elf gehen wir in Les Contamines los – bewusst gemütlich, um Energie für den Folgetag zu sparen. Nach etwas weniger als 2 h kommen wir beim Refuge de Tré la Tête an, wo wir unsere Mittagspause einlegen.

Auch der Weiterweg zum Refuge des Conscrits ist meist gut zu gehen und nur selten durch kurze, mit Eisenbügeln versehene Passagen sowie eine Hängebrücke unterbrochen. Noch vor halb vier (ca. 4 h 20 reine Gehzeit) erreichen wir das Refuge des Conscrits, wo viel Zeit zum Entspannen bleibt, bevor wir ein feines Znacht geniessen. Etwas Bedenken bereitet uns allerdings die Aussage der Hüttenwirte: Am Telefon hatten sie uns von guten Bedingungen berichtet, nun hiess es plötzlich, die Überschreitung sei zuletzt vor einem  Monat gemacht worden, danach hätten alle Seilschaften wegen Blankeis schon vor dem ersten Gipfel umgedreht... Auch der Abstieg vom Col de Glacier, den wir von hier einsehen können, sieht schon stark ausgeapert aus. Wir entscheiden, einfach mal los zu gehen und je nach Situation vor Ort zu entscheiden.

Nach einer kurzen Nacht im  kleinen aber viel zu heissen Zimmer gehen wir um 4:15 los. Anfänglich ist der Weg leicht zu finden, später ist er durch grössere Schneefelder bedeckt, und da wir nach den Niederschlägen die ersten sind, können wir  keinen Spuren folgen. Zum Glück weist uns das GPS den Weg und wir erreichen schliesslich ohne grössere Irrwege den Glacier de Tré la Tête, wo wir uns anseilen. Noch immer ist es dunkel, doch auch hier führt uns der GPS-Track zuverlässig um die Spaltenzonen herum. Der Gletscher ist  allgemein gut eingeschneit und der Schnee kompakt, es gibt aber durchaus beeindruckende Löcher. Allmählich dämmert es und das Gelände wird steiler.

Auf einer Höhe von ca. 3380 m queren wir nach rechts, um den grossen, aber aktuell wenig bedrohlichen Serac zu umgehen. Je nach Verhältnissen wird dieser auch links oder mittig passiert. Oberhalb des Seracs ziehen wir wieder nach links. Hier ist der Gletscher teilweise blank, aber wegen der geringen Steilheit ist dies problemlos. Nun haben wir Sicht auf den Gipfel und können den weiteren Routenverlauf planen. 

Gemäss Führer wird der Gipfelhang in senkrechter Linie erstiegen. Aktuell ist der Bergschrund in Falllinie vom Gipfel aber riesig, deshalb ziehen wir in Richtung Sattel zwischen Punkt 3753 m und dem Gipfel, um anschliessend über den Nordgrat aufzusteigen. Im Sattel ist es ziemlich frisch und windig, dafür hat man einen tollen Blick auf den Mont Blanc und die Aiguille de Bionnassay.

Da Eva im Eis geübter ist, hängt sie sich unsere insgesamt sechs Eisschrauben an den Gurt und geht voraus. Das Eis ist zwar meist griffig und das Gelände nicht allzu steil, trotzdem wären bei den angetroffenen Bedingungen weitere  Eissschrauben und insbesondere ein zweiter Pickel kein Luxus gewesen. Nach etwa 150 Höhenmeter wird das Gelände flacher und wir erreichen kurz vor 8:00 Uhr den Gipfel. Somit sind wir trotz der zeitaufwändigen Schrauberei unter der Führerzeit von 5 h geblieben.

Oben angekommen wollen wir uns erst einmal einen Überblick über den Weiterweg verschaffen. Das Couloir, durch das wir auf den Hängegletscher hätten absteigen sollen, ist schnell gefunden. Allerdings können wir von oben nicht einsehen, ob es noch durchgehend mit Schnee gefüllt ist. Ganz allgemein liegt auf der weiteren Traverse sehr wenig Schnee – dieser wäre aber notwendig, um schnell vorwärts zu kommen. Wir beraten kurz, sind uns aber rasch einig, dass zu viele Faktoren für ein Weitergehen sprechen: Eis und brüchige Felsen würden uns stark verlangsamen und die Tour heikler und zudem noch länger machen als, sie eh schon ist; zudem würde der Abstieg vom Col des Glacier bei Ausaperung stark dem Steinschlag ausgesetzt sein.

Weil wir wenig Lust haben, den selben Weg über die eisige Flanke abzuklettern oder abzuseilen, versuchen wir, einen  alternativen Abstieg zu finden – Zeit haben wir ja jetzt.  Wir folgen erst etwas dem Westgrat in gutem Firn und klettern dann über sehr lose Felsen und Blankeis in Richtung Bergschrund ab, wobei wir uns meist einigermassen mit Cams und Eisschrauben sichern können. Schliesslich opfern wir eine Reepschnur (danke Eva!) und seilen an einem angefrorenen Felsblock über den Bergschrund ab. Dieser stellt sich im Nachhinein als gut geschlossen heraus, von oben war das aber nicht einsehbar, weshalb wir ihn nicht ungesichert hätten überqueren wollen.

Nach Umgehen einer grossen Längsspalte sind wir wieder zurück auf unserer Aufstiegsroute – mit dieser Routenwahl wurde das ja eigentlich zu einer interessanten "Mini-Überschreitung"! Zügig gelangen wir an das Ende des Gletschers, wo wir unser Material verstauen und zur Hütte zurück gehen. Hier gönnen wir uns eine gute Pause und machen uns schliesslich an den mit  175 Höhenmetern Gegenanstieg gespickten Abstieg nach Les Contamines. Am Schluss brennen die Beine doch etwas, und die über 3000 Höhenmeter Abstieg würden – wie immer zu Saisonbeginn – einen ordentlichen Muskelkater  hinterlassen.

Auch wenn die Bedingungen die geplante Tour nicht zugelassenen hatten, kamen wir heute ganz auf unsere Rechnung: ein bisschen Weg suchen, ein bisschen Nordwandfeeling, ein bisschen Improvisation – und trotz tollem Wetter an einem Hochsaison-Sonntag ganz alleine am Berg :-)