Mit Holmger 17/10/21
Dank einem eher regnerischen Sommer sind die Nordwandverhältnisse im Herbst 2021 im allgemeinen überdurchschnittlich gut, allerdings gibt es wenig aktuelle Infos. So schätze ich die Verhältnisse in der Lenzspitze Nordwand selbst als sehr gut ein, bin mir aber unsicher, was die Überquerung des Bergschrundes betrifft, der laut Hüttenwartin Ende August etwas Probleme bereitet hatte. Wir wollen es aber versuchen, und falls der Schrund unpassierbar wäre, halt einfach aufs Nadelhorn steigen - das Herbstwetter und die Bergstimmung sind aktuell einfach zu gut, um das Wochenende im Tal z verbringen.
Mit Schlafsack und Kocher bepackt steigen wir aus der Gondel der Hannigbahn und wandern los - erst bergab, dann ziemlich steil bergauf. Trotz eher gemütlichem Tempo ist der Weg aufgrund seiner Steilheit ziemlich anstrengend. Wir aber geniessen die fantastische Herbststimmung mit den farbigen Lärchen und verschneiten Gipfel, machen zweimal Pause, beobachten einen stolzen Steinbock, und erreichen dann über Leitern und Eisenbügel nach 3h die Mischabelhütten.
Zwei Seilschaften sind schon in der Winterhütte als wir ankommen - Platz ist aber reichlich vorhanden und wir haben sogar einen ganzen Schlafraum nur für uns. Abgesehen von unzähligen, nigelnagelneuen Hüttenfinken (sogar in meiner Grösse!) ist der Winterraum allerdings sehr spärlich eingerichtet, neben einigen Töpfen finden wir gerade mal eine einzige Gabel... Der Rest des Abends vergeht mit Schnee schmelzen und Kochen, Tee trinken und Tütenfutter essen. Nachdem wir noch einen Blick ins Tal und auf die vom fast vollen Mond (und Schneekanonen) hell erleuchtete Bergwelt geworfen haben, legen wir uns früh in die Schlafsäcke.
Um viertel vor 5 stehen wir auf, kochen Kaffee und machen uns um 5:30 auf den Weg. Die anderen beiden Seilschaften starten kurz nach uns, eine in Richtung Ost-Nordostgrat auf die Lenzspitze, die zweite in Richtung Nadelhorn Normalweg. Wir steigen dem Felsgratrücken folgend auf das Schwarzhorn zu, zweigen dann aber auf ca. 3560 m auf den Hohbalmgletscher ab, wo wir uns anseilen und Steigeisen montieren. Da der Gletscher hier doch etwas zerklüftet ist - ich lande prompt mit einem Bein in einer Spalte - würde ich im Nachhinein dem Gratrücken bis zu seinem Ende folgen und dann erst auf den hier flachen und spaltenarmen Hohbalmgletscher absteigen. Wir fühlen uns beide nicht super fit, ein Steigeisen zickt etwas herum und wir sind nicht besonders schnell. Das macht aber gar nichts, denn es ist noch stockfinster und ohne Spur kann ich nur meiner Intuition folgen. Diese stellt sich dann aber als nicht allzu schlecht heraus, denn als es um 7:00 allmählich hell wird, sehen wir, dass wir ziemlich direkt auf die Wand zugesteuert haben.
Wir trinken etwas, ziehen wegen dem frischen Wind eine dicke Jacke über, hängen die Eisschrauben an den Gurt und nehmen das zweite Eisgerät in die Hand. Die Verhältnisse sehen von unten bis oben perfekt aus und auch der Bergschrund lässt sich gefahrlos überwinden, nachdem wir nach ein paar Minuten eine geeignete Stelle dazu gefunden haben. Mit Eisschraube sichern geht zwar nicht wirklich, finden wir aber auch nicht notwendig: ein mittelgrosser Schritt, dann ca. 2.5 m in 80° steilen Firn, in dem die Eisgeräte bombenfest sitzen - und man steht wieder entspannt in der Wand.
Die Bedingungen sind so perfekt wie vermutet: mühelos zu spurender Trittfirn; die wenigen etwas blankeren Stellen und Felsen lassen sich leicht umgehen. Obwohl ich mich heute müde fühle, überkommt mich beim Sonnenaufgang ein grosses Glücksgefühl: Was für ein Privileg, bei besten Bedingungen und Prachtswetter ganz allein in diesem Nordwandklassiker unterwegs zu sein! Schrauben zu setzen ist weder möglich noch notwendig, wir verzichten trotzdem darauf, dass Seil zu verstauen, da wir es nachher wieder brauchen würden.
Ab und zu halten wir kurz inne, um Fotos zu knipsen, zu verschnaufen und die doch etwas brennenden Waden auszuschütteln. Obwohl wir heute nicht besonders schnell gehen, kommen wir dank den super Verhältnissen sehr gut voran. Nach Erreichen des Firngrates gelangen wir in wenigen Schritten in gemischtem Gelände noch vor 9:00 zum Gipfel der Lenzspitze.
Wir machen gemütlich Rast und geniessen die gewaltige Aussicht. Die Ruhe ist ungewohnt und natürlich auch selten an einem Viertausender - auch der benachbarte Dom ist trotz einwandfreien Bedingungen total verwaist. Leider wird die Ruhe bald durch den Rega-Hubschrauber gestört - die Seilschaft am Nord-Nordostgrat muss ausgeflogen werden... Hoffentlich ist nichts Schlimmes passiert!
Schliesslich machen wir uns an den Abstieg ins Nadeljoch, wobei wir uns ab und zu doch recht tief doch den hier im Gegensatz zu Wand sehr pulvrigen Schnee wühlen müssen. Die winterlichen Verhältnisse erfordern etwas mehr Vorsicht und eine langsamere Gangart, als ich es beim letzten Mal erlebt habe. Wir gehen simultan am verkürzten Seil, legen Schlingen oder Cams (was überall sehr gut möglich ist) und tauschen den Vorstieg, wenn uns das Material ausgeht. Zweimal seilen wir auch von einem Turm ab, Abseilstangen sind dort und auch noch an weiteren Türmen eingerichtet.
Der Neuschnee wird immer weniger, und kurz vor dem Nadeljoch können wir die Steigeisen im Rucksack verstauen. Die letzten, für den niedrigen Schwierigkeitsgrad erstaunlich steilen Türme mit dem stabilen, henkligen und wie zum Klettern geschaffenen Fels können wir dann sogar ohne Handschuhe geniessen.
Kurz nach 13:00 erreichen wir das Nadelhorn - hier habe ich schon nach dem Nadelgrat und der Lenzspitz-Nadelhorn gesessen - beide Male schon ziemlich müde... Die Traverse hat uns heute aufgrund des Neuschnees etwas mehr Zeit gekostet als damals - vermutlich werden aber auch bei top Bedingungen die meisten Seilschaften eher im oberen Bereich der im Führer mit 1.5-3h veranschlagten Richtzeit liegen.
Nach einer Pause steigen wir über den Normalweg in Richtung Windjoch ab, wobei wir erst in leichten Mischgelände, dann über den Firnrücken zum ersten Felszacken im Grat gelangen, welchen wir in steilen Blankeis umgehen. So aper und steil habe ich das hier noch nie gesehen! Wir sind froh um 2 Eisgeräte und setzen - zum ersten Mal heute - auch ein paar Eisschrauben. Anschliessend wird das Gelände wieder einfach, und die nächste Felsinsel überklettern wir. Immer wieder schweifen unsere Blick zur Nordwand, die durch den Perspektivenwechsel mit jedem Schritt ein bisschen steiler wird. Wirklich eine höchst ästhetische Tour!
Beim Abstieg vom Windjoch auf den Hohbalmgletscher ist aufgrund der Gletscherspalten nochmals Vorsicht und eine umsichtige Routenwahl gefordert. Über die Ebene steigen wir zum Felsrücken beim Schwarzhorn, wo wir nochmals eine ausgiebige Pause machen und die Sonne und Wärme geniessen. Nach dem Abstieg zu den Mischabelhütten heisst es dann, das Biwakmaterial zusammen zu packen und in die Säcke zu stopfen. Vorher kochen wir aber nochmals Tee, um uns zu rehydrieren und essen etwas.
Nun bleibt noch der lange Abstieg über zahlreiche Leitern und Bügel nach Saas Fee. Leider ist der Stock, den Holmger unter der letzten Leiter deponiert hat, nicht mehr da - wie schon meiner am Gran Paradiso verschwunden ist. Wer macht so was?! Wenns ein Versehen war: bitte melden...
Der letzte Abschnitt zieht sich - obwohl wir nicht langsam runter gehen brauchen wir exakt die auf den gelben Wegweisern angegebe Zeit - Saas Fee scheint die schnellsten Wander der Schweiz zu haben... Beim Eindunkeln erreichen wir aber schliesslich das Dorf und machen uns müde aber höchst zufrieden auf die Heimreise. Die Tour würden wir als 2021 Highlight in Erinnerung behalten!
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